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Gedankenpolizei auf Internet-Patrouille

Über Nacht vom eigenen Leben ausgesperrt: So muss sich ein Amerikaner namens Dylan M. gefühlt haben, als er nicht mehr auf seinen Google-Account zugreifen konnte. Seit Jahren benutzte er Google nämlich nicht nur für die Suche, sondern zum Mailen, Bloggen, Veröffentlichen von Fotoalben, Lesen von Nachrichten, Ablegen von Lesezeichen, Bearbeiten und Speichern von Dokumenten, Verwalten von Terminen und sogar zum Telefonieren (was in den USA geht). Für ein komplettes Arbeits- und ein halbes Privatleben hält Google leistungsfähige, zuverlässige Werkzeuge bereit. Und über Nacht hatte Dylan M. zu all dem keinen Zugang mehr – und keine Ahnung, was passiert war.

Weil er sich zu wehren wusste, ging die Sache nicht aus wie ein Kafka-Roman. Er veröffentlichte seine Geschichte (bei einem Dienst, der nicht zu Google gehört), es gab Aufruhr im Web, schließlich rief einer der Top-Manager von Google an und erklärte ihm, dass alles wieder gut sei. Aber was war passiert?

Hier wird die Geschichte interessant. Wie M. erklärt, hatte er als ehemaliger Kunststudent vor drei Jahren an einem Projekt namens „The Evolution of Sex“ teilgenommen, in dem es unter anderem um die zunehmende Gewalt und Absurdität der Pornografie ging. Die Bilder aus diesem Ausstellungsprojekt hat M. in seinem Google-Fotoalbum veröffentlicht. Sie dürfen sie ruhig ansehen, auch wenn Sie nicht allein im Raum sind: die Venus von Willendorf, Werbung, ein Comic-Cover. Ein Bild fehlt. Es stammt vom gleichen Fotografen wie das letzte der Serie und wurde von einem automatischen Erkennungssystem als Kinderpornografie eingestuft – zu Unrecht.

Kinderpornografie ist zu Recht verboten, und es ist zu begrüßen, dass Google auf seinen Servern danach fahndet. Diese Geschichte zeigt jedoch, dass sie dabei wie ein Elefant im Porzellanladen agieren. M. selbst weist auf die bittere Ironie hin, die sich aus der Absicht dieser Dokumentation und ihren Folgen ergibt. Er hat auch von vielen anderen Nutzern gehört, deren Accounts aus rätselhaften Gründen gesperrt wurden.

Was mich an dieser Geschichte interessiert hat, ist die fehlende Sensibilität der marktbeherrschenden Technologiekonzerne, wenn es um das Thema Sexualität geht. Dafür gibt es viele, viele Beispiele: das Verbot von Fotos stillender Mütter auf Facebook. Apples Bann erotischer Inhalte im iPhone-AppStore. Facebooks Intoleranz haben wir selbst schon zu spüren bekommen – wir dürfen dort nicht für das Feigenblatt werben. Heute habe ich erfahren, dass Amazon USA Erotik-Bücher heimlich aus seinen Bestsellerlisten entfernt.

A propos Amazon. In meinem anderen Beruf als c’t-Redakteur teste ich gerade Bezahlsysteme, darunter auch „Bezahlen mit Amazon“. Die Richtlinien verbieten, den Dienst für „erotiknahe Produkte“ zu nutzen. Ich wollte es nicht glauben und habe testweise das Feigenblatt angemeldet – und tatsächlich:

Ihre Anmeldung für Amazon Payments war leider nicht erfolgreich und wurde abgelehnt. Wir entschieden uns zu diesem Schritt, da wir bemerkten, dass Ihre geplante Verwendung für Amazon Payments eine Verletzung der Richtlinien zur akzeptablen Nutzung bzw. der Nutzungsvereinbarung darstellen könnte.

Zu den „erotiknahen Produkten und Dienstleistungen“ zählt Amazon übrigens „Pornographie (auch Kinderpornographie)“. Pornografie und kriminellen Kindsmissbrauch in einen Topf zu werfen – das kotzt mich wirklich an.

(via t3n)

Am 28. Juli 2011 von Herbert Braun · Kategorien : Standard Schlagwörter